S C H W E R P U N K T H U M A N G E N O M : Viel Text, wenig Sinn Das entzifferte menschliche Genom bietet keinen Anlass für Stolz und Allmachtsfantasie Von Jens Reich, Molekularbiologe am Max-Delbrück-Centrum in Berlin 15. Februar 2001 DIE ZEIT Ohne Zweifel, es ist ein Jahrhundertereignis: Das Genom des Menschen liegt nun in Textform als umfangreiche Datenbank vor, wenn auch noch mit Lücken und Fehlern. Ein Vergleich mit der Mondlandung ist insofern berechtigt, als beide technische Großprojekte euphorische Hoffnungen weckten, ebenso wie dysphorische Sorgen. Und wie die Auswirkungen der Mondlandung überschätzt wurden, dürfte dies auch für das Humangenom gelten. Auf die großen Anwendungen werden wir noch Jahre, wenn nicht Jahrzehnte warten. Ausbuchstabieren ist eben nicht das Gleiche wie Verstehen des Genoms. Welche Hoffnungen und Sorgen um die stürmische Entwicklung der Genomforschung sind unmittelbar relevant? Zum Beispiel, dass nun auch die individuellen Varianten jedes Menschen ablesbar werden. Denn bei uns allen sind 99,9 Prozent des Genoms identisch - nur in einem Promille unterscheiden wir uns. Mit diesem kleinen Unterschied kann man noch nicht viel anfangen. Aber das wird sich bald ändern. Insbesondere lassen sich reichlich Erkenntnisse über individuelle genetische Defekte gewinnen, von denen es ungefähr 5000 gibt. Sie treten alle sehr selten auf. Es wird länger dauern, bis all diese Defekte therapier- oder verhütbar sind, vorerst wird es also viele Diagnosen ohne Therapie geben. Erbleiden und andere intime Informationen sind im Genom verschlüsselt - und damit schutzbedürftig. Es müssen sehr bald Regelungen gefunden werden für den gesellschaftlichen, medizinischen und ökonomischen Umgang mit solchen Daten (siehe Skandal oder Fortschritt?, Seite 34). Entsprechende Vorschriften sind sehr differenziert auf den Einzelfall auszurichten. Wenn das Bundeskriminalamt beispielsweise genetische Fingerabdrücke sammelt, dann muss gesichert sein, dass diese Abdrücke nur von den im Genom reichlich vorhandenen sinnleeren Abschnitten stammen (die individuell eindeutig sind wie ein Fingerbeerenmuster) und nicht von den gentragenden Abschnitten, aus denen eventuell persönliche Eigenschaften hervorgehen. Umgekehrt müsste der Arzt just die sinntragenden Genabschnitte kennen lernen, um etwa eine vererbte Neigung für Schlaganfall zu entdecken. Wir wissen nun, der Mensch hat knapp 32 000 Gene (siehe nächste Seite). Dass es nur 32 000 sind und nicht wie erwartet 100 000, ändert nichts daran, dass all diese Informationen zu einem unglaublich komplexen Netzwerk führen, von dessen Verständnis wir noch endlos weit entfernt sind. Die Wechselwirkungen Tausender und (im Hirn) sogar Zehntausender Gene und all ihrer Produkte vereiteln zudem alle Versuche, per Genomdesign Menschen mit erwünschten Eigenschaften zu produzieren. Der "Mensch nach Maß" ist eine irrige Allmachtsfantasie. Denn es trifft zwar zu, dass die meisten biologischen Merkmale eine erbliche Komponente haben. Deren Ausprägung ist jedoch so unauflösbar verzahnt mit Einflüssen der Umwelt und der Lebensweise, dass eine gezielte Beeinflussung komplexer Merkmale wie Verhalten oder Intelligenz ausgeschlossen ist. Allenfalls könnte man Unerwartetes erreichen: Pfusch und Fehlbildung. Mediziner und Pharmazeuten werden vielmehr nach bestimmten Angriffspunkten in Organen und Zellen suchen, über die sich der Stoffwechsel beeinflussen lässt, mit Medikamenten, die noch maßzuschneidern sind. Für dieses erprobte Prinzip ist die Hormonbehandlung ein Beispiel und Hormondoping für den Missbrauch. Wer hier Hoffnungen oder Befürchtungen hegt, sollte berücksichtigen, dass es fast zehn Jahre dauert, bis ein neues Medikament zugelassen ist. Die Geschichte lehrt, dass dies der beste Weg ist, um komplexen Zivilisationskrankheiten - wie Herzinfarkt, Schlaganfall, Alzheimer - vorzubeugen oder sie zu behandeln. Die Prävention einfacher Erbkrankheiten etwa durch freiwillige Eugenik wie auf Zypern (siehe Seite 33) bleibt ein Sonderfall. Auch die genetische Umkonstruktion zur Behandlung von Krankheiten, also Gentherapie, wird nur in geringerem Maße einsetzbar sein, eben wegen der Komplexität eines erwachsenen Organismus. Es ist halt viel einfacher, auf einer Geige ein Musikstück anständig zu spielen, als die Geige auseinander zu nehmen und konstruktiv zu verbessern. Ebenso ist es weit einfacher und ungefährlicher, ein Gen an- oder abzuschalten, als es herauszunehmen oder einzupflanzen. Die Aufklärung des Genoms schafft unabdingbare Voraussetzungen für die Erforschung der evolutionären Geschichte der menschlichen Gattung. Mehr als 98 Prozent unseres Genoms sind mit dem von Schimpansen identisch. Ein Vergleich der relevanten Genabschnitte wird helfen, ein fundamentales Rätsel der Human- und der Primatenbiologie zu lösen. Vielleicht sind es ja nur einige hundert Gene, die uns von unseren freundlichen Varianten aus dem Urwald trennen. Einige hundert Gene haben wir Menschen auch von den Bakterien übernommen. Eine Riesenüberraschung. Es sind sehr wichtige darunter, die zum Beispiel der Entgiftung dienen. Bakterien sind Meister der Entgiftung. Ich bin gespannt, was Fundamentalkritiker jeder Genübertragung, etwa in eine Nutzpflanze, sagen werden zu unserem regen Fremdverkehr über heilige Artgrenzen hinweg. Es ist überhaupt erstaunlich, wie durchlässig die Artgrenze im Laufe unserer Evolution gewesen sein muss. Unser Erbgut beherbergt Hunderttausende von springenden Genen, "selbstsüchtige" Gene mit der Fähigkeit, sich raffiniert im Genom zu vermehren. Auch Viren haben sich in Hunderttausenden Kopien festgesetzt. Doch anders als etwa das Aids-Virus, das sich in das Erbgut von Blutzellen einschleichen kann, sind die Viren in unserem Genom schon seit Jahrmillionen unsere Untermieter - und vermutlich inaktiviert. Ferner haben wir kaum mehr Gene als so prosaische Wesen wie Obstfliegen oder Fadenwürmer. Nach der fundamentalen Kränkung des Menschen durch Darwin, der uns zu Verwandten von Affen machte, mag das nun der endgültige Schlag für alle sein, die den Menschen zur Krone der Schöpfung machen wollen. Allenfalls können wir in Anspruch nehmen, dass vor allem unser Gehirn sehr viel komplexere Strukturen aus den 30 000 Genen erzeugen kann als die erwähnten, "hart verdrahteten" tierischen Reflexmaschinen.